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Hans Grimm, Volk ohne Raum
München: Albert Langen, 1926

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Viereck Buchnotiz Martin Wellmann, 2003

Publikationsgeschichte

Hans Grimms Volk ohne Raum wurde erstmals 1926 im Münchner Verlag Albert Langen veröffentlicht. Grimm wechselte zwar bereits 1938 zu Bertelsmann, eine Gütersloher Auflage von 20.000 Exemplaren, erschien jedoch erst 1944, eine weit größere von einer halben Millionen Exemplaren im Auftrag der Organisation Todt war zu diesem Zeitpunkt in Planung erschien jedoch nicht mehr.

Seit 1920 arbeitete Grimm an seinem monumentalen Werk, das nahezu 1300 Seiten umfasst. Volk ohne Raum zählt zu den am häufigsten verkauften Büchern in der Weimarer Republik. Bis zur "Machtergreifung" im Jahr 1933 wurden etwa 200 000 Exemplare verkauft. Der enorme Erfolg des Romans dürfte wohl in nicht geringem Maße dem Titel zuzuschreiben sein, welcher die Verstimmung weiter Teile der deutschen Bevölkerung gegen den Versailler Vertrag schlagwortartig zusammenfasst. Somit wurde Grimms Werk mit seinem Titel zur literarischen Personifikation des "Blut- und Boden"-Mythos und stellte mit seinem Inhalt die propagandistische Rechtfertigung der aggressiven Eroberungspolitik des nationalsozialistischen Deutschland.

Inhalt

Der Roman verfolgt in vier Teilen (Heimat und Enge, Fremder Raum und Irregang, Deutscher Raum, Volk ohne Raum) den Lebensweg des Bauernsohnes Cornelius Friebott, der 1875 - im selben Jahr wie sein Autor - im Weserbergland nahe Lippoldsberg geboren wird. Cornelius Friebotts Erkenntnis, dass der deutsche Mensch mehr Raum zum Leben braucht, da er andernfalls dem Untergang geweiht ist, nimmt eine zentrale Stellung in dem seitenstarken Roman ein. Diese politische und ideologische Forderung des Protagonisten wiederholt sich stetig bis zum Jahr 1923, in dem er einen gewaltsamen Tod stirbt.

"Heimat und Enge"

Der erste Teil, mit dem Titel Heimat und Enge, handelt von Cornelius Friebotts bäuerlichen Ursprüngen. Schon in jungen Jahren werden ihm seine räumliche Enge und die seines Volkes bewusst. Görge Friebott, sein Vater, nennt als Grund der Raumnot die große Wachstumsrate der Bevölkerung, sowie die historische Entwicklung des Erbrechts. Die Lösung dieses Problems betitelt er als "größte und schwerste deutsche Frage". Cornelius verlässt seine Jugendliebe Melsene als er sich zum Militärdienst bei der Marine meldet. Dort lernt er den Sozialisten Martin Wessels kennen und freundet sich mit ihm und dessen Gedankengut an. Der Militärdienst bringt Cornelius zum ersten Mal nach Afrika, wo er dem burisch-englischen Konflikt, der zur "Krüger-Depesche" führt, beiwohnt. Von der Weite und Vielfalt des Landes beeindruckt kehrt Cornelius nach Deutschland zurück und versucht sich als Arbeiter in einem Steinbruch und später in einem Bochumer Bergwerk. Sein sozialistisches Engagement macht ihn bei seinen Arbeitgebern unbeliebt und Cornelius Friebott wird schließlich als Aufständischer kurzzeitig verhaftet. Nach seiner Haft erfährt er, dass seine Jugendliebe inzwischen verheiratet ist. Dieser Umstand und die negativen Erfahrungen der industriellen Arbeitswelt im beengten Deutschland bewegen Cornelius dazu, nach Afrika auszuwandern.

"Fremder Raum und Irregang"

Im zweiten Teil, Fremder Raum und Irregang, nimmt Cornelius Friebott in einer deutschen Kampftruppe am Burenkrieg teil. Sein Freund Martin Wessels, der ebenfalls nach Südafrika auswanderte, und er versuchen ihren Lebensunterhalt nach dem Krieg als Handwerker zu verdienen. Sein Versuch sich niederzulassen scheitert an der Schwierigkeit, auf englischem Boden eine Anstellung zu finden und an seiner Zurückhaltung in neuen Liebesbeziehungen. Da sein Freund Martin Wessels sich verheiraten will um sich eine dauerhafte Existenz aufzubauen, macht sich Cornelius auf die Suche nach seinen, einst aus Deutschland ausgewanderten, Verwandten. Auf dieser Suche begegnet er einem Hans Grimm (!), der ihn freundlich aufnimmt und ihm bei seiner Suche hilft. Cornelius trifft seinen Vetter George, der ihn begleiten will. Zusammen machen sie sich auf den Weg nach Deutsch-Südwestafrika.

"Deutscher Raum"

Zu Beginn des dritten Teils, Deutscher Raum, nehmen Cornelius und sein Vetter an der kriegerischen Auseinandersetzung zwischen den Südafrika-Deutschen und dem Hottentotten-Häuptling Simon Kopper teil. Dies geschieht aus logischer Konsequenz ihres nationalen Selbstverständnisses. Nach dem Erfolg des Feldzuges kaufen sie zusammen eine Farm, da sie mit der Suche nach Diamanten erfolglos blieben. Cornelius entschließt sich, Deutschland zu besuchen während sein Vetter George mit der benachbarten Farmerstochter einen Hausstand gründet.

"Volk ohne Raum"

Im vierten Teil, der den Titel Das Volk ohne Raum trägt, nimmt Cornelius an einem Parteitag der SPD teil und sieht sich mit der negativen Resonanz auf seine Forderung nach neuem wirtschaftlich ertragreichen fremden Raum für Deutschland konfrontiert. Als er sich um sein elterliches Erbe kümmert, wird ihm noch einmal bewusst wie dringend Deutschland seinen Lebensraum erweitern muss. Während seines Aufenthaltes in seiner Heimat verliebt Cornelius sich leidenschaftlich in ein junges Mädchen, ohne zu wissen, dass sie die uneheliche Tochter seiner Jugendfreundin ist. Die große Weite Afrikas lässt ihn wieder auf seine Farm zurückkehren, die, als der erste Weltkrieg beginnt, von den Engländern besetzt wird. Er selbst gerät in Gefangenschaft. Cornelius gelingt jedoch gegen Ende des Krieges die Flucht ins portugiesische Angola. Von dort geht er endgültig nach Deutschland zurück. In Deutschland angekommen heiratet er die Tochter seiner Jugendfreundin Melsene und geht auf Wanderschaft, um seine Gedanken über Deutschlands Probleme und seine Forderungen zur Behebung dieser öffentlich zu verkünden. Cornelius macht sich als Wanderprediger viele Feinde, so überrascht es nicht, dass er kurz vor dem 9. November 1923 (Hitlerputsch) durch einen Steinwurf eines aufgebrachten Arbeiters ums Leben kommt. Gleichzeitig wird sein Freund Martin Wessels in Südafrika wegen der Teilnahme an einem Bergwerkstreik von Engländen erschossen.

Kommentar

Die wesentliche Aussage dieses Romans wird bereits im Titel genannt. Durch künstlich anmutende Archaismen und monotone Wiederholungen der politischen und ideologischen Ansichten Friebotts tritt die Forderung nach neuem Agrarraum immer wieder in den Vordergrund. Dies geschieht selten durch aktives Handeln des Protagonisten, sondern vielmehr durch Reduktion auf seine Gedankenwelt. Grimm schafft sich hiermit ideale Bedingungen um seine völkisch-sozialen Theorien zu exemplifizieren. Immer wieder wird in der "Bibel des Deutschtums" (Kurt Tucholsky) die Bedeutung des Bauerntums hervorgehoben und in Antithese zur industriellen Arbeitswelt gestellt. So wird der Bauernsohn, der vielfache Qualen, besonders von Engländern, erdulden muss, zum "deutschblütigen" Märtyrer, als er durch den Steinwurf eines Sozialisten den Tod findet. Der geschickt dosierte, immer wiederkehrende, Rassismus, Antisemitismus und die dem Titel entnommene geopolitische Forderung lassen sich nicht durch die vielen dokumentarischen Anekdoten (Bergwerkkatastrophe, Feldzug des Hauptmanns von Erckert, Kampfgeschehen im Burenkrieg, Diamantensuche in Afrika) entschärfen.

Die Tatsache, dass sich der Roman an keiner Stelle kritisch-wissenschaftlich mit der politischen oder sozialen Realität befasst, kam den Nationalsozialisten sehr gelegen. Die Sympathie, die das NS-Regime Grimms Werk entgegenbrachte, kann kaum verwundern und lässt sich leicht erkennen, da der Roman zur Pflichtlektüre in den deutschen Schulen wurde. Ebenfalls bemerkenswert ist, dass Volk ohne Raum als politisches Buch während der Weltausstellung in Chikago (1936) der einzige Repräsentant für "Deutsche Literatur" war. Trotz der großen Bedeutung, die die Nationalsozialisten seinem Werk bezeugten, war Grimm mit dessen Erfolg nicht ganz zufrieden "weil mir das Buch zu einem Parteibuch gemacht zu werden scheint" und er nicht nur für die Rechten sondern für das ganze Volk sprechen wollte. Hans Grimms Verhältnis zum Nationalsozialismus wird gerne als "tragische Ambivalenz" (K. v. Delft) gesehen.


Ende