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C. Bertelsmann Verlag, Gütersloh

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Kapitel 1: Innovation im provinziellen Geschäft

Das Unternehmen das Heinrich Mohn 1921 von seinem Vater übernahm, war drei Generationen zuvor, 1835, gegründet worden: Ein Haus in der ostwestfälischen Provinz, deutschnational, protestantisch und staatstragend. Zeitweilig hatte man eine regionale Zeitung herausgegeben und sich mit dieser am Kampf der Nation um Einigung beteiligt — 1921 lag dies lange zurück. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatte das Unternehmen, das sein Standbein in der Versorgung des lokalen Raums mit Erbauungsliteratur hatte, sich dem wissenschaftlichen Verlagswesen geöffnet. Bertelsmann gab theologische Fachliteratur heraus, Fachzeitschriften, die von Universitätsbibliotheken abonniert wurde. Schulbücher kamen hinzu, Amtskalender für die Geistlichkeit, Notenmaterial für Gesangsvereine und Gemeinden, Jugendliteratur — hier war ein Konfirmationsgeschäft abzudecken mit Ausgaben von Schwabs Klassischen Sagen des Altertums und mit nationaler Erbauung .

 

 
 
 
 
 
 
Bertelsmann-Werbung im Börsenblatt für Bücher des Konfirmationsgeschäfts.
 
Unter dem Walter Flex-Zitat "Rein bleiben und reif werden!" werden Geschenkbücher angeboten, die die ältere Kundschaft ansprechen, von der zu beschenkenden Jugend dagegen wohl kaum gekauft würden.

Das gesamte Programm war für den langfristigen Absatz gemacht. Das Lektorat leitete der Verlagseigner. Bei den wissenschaftlichen Reihen und Zeitschriften lag die Autorenbetreuung weitgehend bei den Herausgebern. Charismatische Persönlichkeiten wie der Posaunenapologet und Pfarrer Kuhlo gestalteten Programmfelder wie das der Notenproduktion.

Die Vertriebsstrukturen waren archaisch. Werbung im Buchhandel spielte eine untergeordnete Rolle. Weit wichtiger war der Kontakt, den das Unternehmen selbst zu Schulbehörden und Gemeinden im Minden-Ravensberger Umkreis hielt.

Heinrich Mohn war in das Geschäft der Familie schrittweise eingeführt worden. Das Jahr 1921 bedeutete für das Haus keine Zäsur. Ein Nachdenken über die Zukunft des Hauses scheint der Schock der Inflation 1923 mit sich gebracht zu haben. Die Preise explodierten, das Unternehmen mußte die Produktion vorübergehend einstellen. Heinrich Mohn scheint in der Folge des Schocks den Plan gefaßt zu haben, das Unternehmen zu modernisieren. Die Vielzahl der einzeln verwalteten Titel, die in geringen Auflagen hergestellt überteuert waren und einen hohen Verwaltungsaufwand erforderten, mußte langfristig sich rechnenden Großprojekten weichen. Aus dem Jahr 1924 stammt die erste der Herstellungslisten, deren Folge bis in die Nachkriegszeit geht. Bislang wurde Buch für Buch kalkuliert und geplant: Zu jedem Titel existierte ein eigener Bogen, auf dem vermerkt wurde, wann das Buch in die Produktion kam, welche Kosten es verursachte, wie die Auslieferung verlief, wann es wieder nachgelegt werden mußte. Mit den Herstellungslisten begann dagegen ein Nachdenken über die Jahresproduktion. Mohn erfaßte die Produktion zuerst als einen einzigen Block. Welche Herstellungskosten verursachte dieser, wie verlief sein Absatz. In einer großen Kladde korrespondierte mit der Jahresproduktion eine Tabelle, die den Absatz der Jahresproduktion über die nächsten Jahre hinweg verfolgte. Das System verlangte bald Präzisierungen — Mohn teilte die Produktion in Gruppen und vergab Großbuchstaben — A für die wissenschaftlichen Theologica, B für Theologica im breiteren Absatz, C für Jugendschriften, D für den Gemeindebedarf. Jeder dieser Gruppen konnte ein eigener Absatzverlauf zugestanden werden. Das System verlangte weitere Differenzierung mit den ersten belletristischen Büchern, die 1928 ins Geschäft kamen, mit Jugendschriften und Zeitschriften. Jede Sparte mußte für sich im Absatz optimiert werden. Belletristik und populärere Theologie mußten sich rasch verkaufen, wenn sie sich amortisieren sollten; bei wissenschaftlichen Theologica konnten höhere Kostenrahmen in der Ausstattung riskiert werden, um den langfristigen Absatz zu decken. Heinrich Mohn begann, sein Unternehmen mit Statistik zu durchdringen. Aus der Betreuung des einzelnen Verlagswerkes, die das Erbe des 19. Jahrhunderts war, erwuchs die strategische Planung von Jahresproduktionen. Mit ihr kam die Planung der Verlagsentwicklung mit den Schwerpunktverlagerungen, die ab 1925 in Schüben vonstatten ging.

Tabelle aus Heinrich Mohns Statistik-Kladde: Die Jahresproduktion 1929 im Absatz über die nächsten fünf Jahre

Tabelle aus Heinrich Mohns Statistik-Kladde: Die Jahresproduktion 1929 im Absatz über die nächsten fünf Jahre.

 

 

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Investitionen in der Krise oder das Erfolgsrezept des Pfarrers Zauleck

Die mittleren zwanziger Jahre bescherten dem deutschen Buchhandel Wachstum. In Berlin kämpften die Giganten Ullstein, Mosse und Hugenberg um Marktanteile. Buchgemeinschaften, der Vertrieb über Gewerkschaften, Verbände wie den der Handelsgehilfen und über Parteien erschlossen den neuen Massenmarkt. 1925 wurde ein gutes Jahr. In die "Weltwirtschaftskrise" bewegte sich der Buchhandel dann jedoch mit der "Bücherkrise". Sie wurde das bestimmende Thema der nächsten Jahre. Der Absatz ging zurück, das Börsenblatt, ein guter Indikator des Werbevolumens, schrumpfte und notierte in jährlichen Statistiken die Rückschläge.

Die Krise erreichte auch Bertelsmann. Bibliotheken kündigten ihre Abonnements teurer theologischer Fachzeitschriften. Einzelkunden zögerten bei prestigeträchtigen Anschaffungen theologischer Werke. Die antiquierte Jugendbuchproduktion blieb auf dem Markt der zwanziger Jahre chancenlos — "Groschenhefte" mit Wildwest- und Kriminalsujets hätten Konjunktur auf dem großstädtischen Pflaster gehabt. Das biedere westfälische Verlagshaus versuchte sich jedoch gerade in Alternativen, die allenfalls konservative Eltern erfreuten. Die Buchproduktion brach ein. Die Situation wäre verheerend gewesen, hätte nicht die Zeitschriftenproduktion die Verluste aufgefangen.

 

Bertelsmann, Umsatz Zeitschriften und Umsatz Bücher

Die Umsätze im Zeitschriften- und im Buchverlag 1924-1937. 1932 holen die Umsätze im Zeitschriftenverlag die im Buchverlag ein.

 

Der Umsatz des Buchverlags verdoppelte sich von 1924 (355.000 RM) bis 1931 (728.079 RM), der des Zeitschriftenverlags versechsfachte sich im selben Zeitraum (von 100.000 auf 613.551 RM). 1932, im schwersten Jahr der Weltwirtschaftskrise, rutschte der Umsatz des Buchverlags unter den des Zeitschriftenverlags. Erst mit dem Jahr 1935 fand der Buchverlag zu der Produktion, die ihm ein massiveres Wachstum bescherte. Der Zeitschriftenverlag fiel in dieser Entwicklung auf Umsätze der Jahre 1927 und 1928 zurück.

Klarer sieht man, welche Bedeutung das Zeitschriftengeschäft für das Unternehmen hatte, wenn man von der Umsatzentwicklung auf die Ertragsseite sieht. Bei allen Umsatzsteigerungen war der Buchverlag bis 1935 ein Minusgeschäft — sowohl der theologische wie der 1928 gegründete belletristische. Der Zeitschriftenverlag rettete Heinrich Mohns Unternehmen über die Wirtschaftskrise und er erlaubte, die Experimente, die man sich im Hause mit dem Einstieg in die belletristische Produktion leistete.

 

Erträge im Zeitschriften- und im Buchverlag mit seinen beiden Sparten theologischer und belletristischer Buchproduktion

Die Erträge im Zeitschriften- und im Buchverlag mit seinen beiden Sparten theologischer und belletristischer Buchproduktion, 1930-1938. Die Zeitschriften tragen das Unternehmen bis 1935.

 

Das Zeitschriftengeschäft florierte letztlich allein dank der Projekte, die Johannes Zauleck in das Unternehmen eingebracht hatte. Die Geschäfte des Pfarrers, der ein gewaltiges Arbeitspensum absolvierte, waren als Erbhof angelegt. Zaulecks Vater hatte im Verlag Morgenbesser in Bremen vom 19. in das frühe 20. Jahrhundert hinein Erfolge mit einem Blatt verzeichnet, das sonntäglich nach dem Kindergottesdienst an die Kinder verteilt wurde. Eine begleitende Fachliteratur richtete sich an die Veranstalter mit praktischen Ratschlägen und theoretischen Erörterungen zur Gestaltung des Kindergottesdienstes. Bertelsmann bekundete 1913 ein erstes Interesse an Zaulecks Projekten. Nach Morgenbessers Tod, wechselte Johannes Zauleck, der die Arbeit am Kindergottesdienst vom Vater übernommen hatte, zu Bertelsmann. Die Konditionen, mit denen er seine Position gegenüber dem neuen Verlag fixierte, waren komplex: Zauleck arbeitete als eigenverantwortlicher Unternehmer. Die Projekte, die er führte, würden im Falle seines Todes an seinen Sohn übergehen. Der Verlag unterstützte ihn in Herstellung und Vertrieb.

Für unsere Kinder, das Blatt für die jungen Besucher des Kindergottesdienstes, das auf Kosten der Gemeinde ausgehändigt wurde, prosperierte bei Bertelsmannn. Der Zuwachs der Abonnenten fing alles auf, was im wissenschaftlichen Verlag soeben an Kunden wegbrach. Das Blatt für den Kindergottesdienst inspirierte zu weiteren Gründungen. Die Familien adressierte Zauleck mit Acht Seiten, Freude zu bereiten. Das vierteljährlich ausgehändigte Blatt bot aus Büchern anderer Verlage ausgekoppelte Erzählungen und eignete sich als Werbeplattform für konservative aktuelle Belletristik. Die Alten ließen sich mit einem Blatt im Großdruck bedenken. Für alte Augen nahm die Pfarrgemeinden und Altenheime als Vertriebsstruktur ins Visir. Alle drei Projekte entwickelten sich sprunghaft.

 

Jahr Geistes-
kampf
Theolog.
Lit.bericht
Neue Allg.
Missions-
zeitschr.
Evang.
Missionen
Zeitschr. f.
systemat.
Theologie
Zeitschr. f.
Religions-
psychologie
Kinder-
gottesdienst
Ausg. A
Kinder-
gottesdienst
Ausg. B
Für unsere
Kinder
Acht
Seiten
Für alte
Augen
Christl. Erzähler
— Lichter Weg
— Frohes Leben
1924 2.327 887 1.684 1.162 752   2.922   99.230      
1925 2.937 799 1.746 1.536 869   4.757   146.869 160.800    
1926 2.446 698 1.540 1.413 807   4.565   171.233 568.145    
1927 1.976 589 1.422 1.259 779   4.169 1.191 181.249 1.003.907    13.221
1928 1.662 508 1.401 1.167 706 257 4.005 2.855 189.966 1.744.283    18.481
1929 1.406   1.397 1.007 672 320 3.721 3.262 202.908 1.289.222 21.708  21.769
1930 1.232   1.308 923 568 307 3.658 3.672 222.410 1.304.669 33.868  21.064
1931 1.074   1.317 1.141 499   3.324 3.610 233.566 1.349.802 36.634  19.166
1932 809   1.431   438   2.770 3.809 239.008 1.250.266 37.469  16.702
1933 790   1.350   374   2.565 3.602 220.893 1.163.639 36.636  14.444
1934     1.176   340   2.520 3.592 216.569 1.977.241 37.619  13.049
1935     1.131       2.428 3.671 210.361 1.006.954 39.270 9.720
1936     1.059       2.379 3.576 212.666 1.029.798 42.236 5.923
1937     990       2.238 3.525 206.229 1.144.167 44.708 4.609
1938     926       2.254 3.360 193.065 1.137.499 55.264 3.579
1939             2.316 3.416 179.924 1.309.678 59.722 2.745
1940                 184.439 1.871.534 64.794 2.388
1941                       2.573
1942                       2.543

 
Abonnenten und Auflageziffern der bei Bertelsmann erscheinenden Zeitschriften. Dunkler hinterlegt die Projekte Johannes Zaulecks.

 

Den Erfolgen Rechnung tragend entschloß sich Heinrich Mohn 1927, eine eigene Bertelsmann-Zeitschrift mit Erzählungen und Romanen in Fortsetzungen zu gründen. Die Herausgeber Friedrich A. Böhme, Fritz Pferdmenges und die Brüder Gustav und Wilhelm Schlipköter hatten sich im regionalen Umfeld und gegenüber der protestantischen Leserschaft hervorgetan. Fritz Wixforth und Otto Oeltze bauten den ersten Abonnentenstamm auf: Buchhändler, die Kunden gewannen, wurden mit Prämien bedacht. Das Blatt hatte ein Jahr nach seiner Gründung 20.000 Bezieher, erreichte dann noch vor dem Krisenjahr 1932 seinen Zenit. Die Abonnentenzahlen gerieten in den freien Fall und dieser ließ sich weder 1935 noch 1937 durch Wechsel der Herausgeber, des Designs und des Namens der Zeitschrift beenden. Der Christliche Erzähler 1927-1935 bot ohne jedwede Kommunikation der Herausgeber mit ihrer Leserschaft Erzählungen und Romane in Fortsetzungen. Jede Nummer eröffnete mit einer zur Andacht mahnenden Gemäldeproduktion verklärend biblischer Sujets, was die erste Eingrenzung des Kundenkreises mit sich brachte: das Blatt war konservativ protestantisch, ausgerichtet auf eine absterbende Leserschicht, am wenigsten taugte es in seinem Bekenntnis zur Provinz, um sich 1933 dem Nationalsozialismus zu öffnen. Die Belletristik, der die Herausgeber eine Plattform boten, brachte die weiteren Einschränkungen der Verbreitbarkeit: Familiengeschichten sprachen ältere Leserinnen an. Politische Untertöne waren reichlich gesetzt: deutsch-national. Hinzu kam eine konstante Polemik gegen die Kultur der Großstädte, das "Asphaltliteratentum" das in der Fremde gedieh.

Der erste Herausgeberwechsel, der aus dem Christlichen Erzähler 1935 den Lichten Weg machte, hob die rückwärtsgewandte Zeitschrift auf ein neues Gleis: Reinhold Braun wechselte von den Neonazarenern des späten 19. Jahrhunderts, die das Erscheinungsbild bei den Gemäldereproduktionen beherrrschten, zu aktuellerer Spitzweg-Gemütlichkeit. Mit ihm faßten zudem bürgerlich konservative nationalsozialistische Autoren im Blatt Fuß. Als mit Gustav Dessin 1937 aus dem ehemaligen Christlichen Erzähler das Frohen Leben machte und den Elan der nationalsozialistischen "Kraft durch Freude"-Bewegung in das Blatt holte, all dies mit Bildern Hitlers und seiner Massenauftritte garniert, war die Chance für den Neuanfang bereits vertan. Dessin konnte seine Zeitschrift nur noch für die Kontaktpflege und Autorenbetreuung nutzen, für die er als der erste belletristische Lektor des Unternehmens dringend eine Plattform benötgte. Der Verlag ließ die Zeitschrift laufen bis die Papierkontingentierung des Zweiten Weltkriegs die Einstellung des Blattes 1942 erzwang.

1927 war der Niedergang der neuen Neugründung noch nicht absehbar. Fritz Wixforth hatte dem belletristischen Blatt als Vertriebsleiter einen glänzenden Start geschenkt. In der Schweiz fragte ihn — so sein eigener späterer Bericht — ein Buchhändler, den er als Verlagsvertreter besuchte, warum Bertelsmann Romane, wie sie im Christlichen Erzähler erschienen, nicht in eigenen Ausgaben herausbrachte [Sammlung UHK, Theodor Berthoud "Wege mit Fritz Wixforth" vom Juni 1966, I.2/7001]. Wieder daheim erhielt der Vertriebsleiter von Mohn freie Hand, sein Glück auf dem unbekannten Terrain zu versuchen. Die ersten vier Bertelsmann-Romane erschienen 1928 vor dem Höhepunkt der Krise, die das Unternehmen mit größerer Härte 1932 treffen sollte. Das Unternehmen bewegte sich vorsichtig auf das neue Geschäftsfeld und zunächst durchaus nicht erfolgreich.

 

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