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[Meinhold, Elfriede,] Tagebuch einer Dame (München/ Leipzig: R. Piper & Co., 1907)
Zensur Fallstudie

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6.9.1907

Am 6.9.1907 wird die Polizeidirektion München beim Ersten Staatsanwalt am K. Landgericht München I. vorstellig. Man bittet das Landgericht, eine möglichst rasche Beschlagnahmung zu erwägen, da die Verbreitung des Buches in den Schaufenstern einen großen Absatz des Titels erwarten läßt. Aus Sicht der Polizei scheint primär zu beanstanden, daß hier "Schicksale einer, mit einer 'Hetärennatur' begabten Dame der Gesellschaft geschildert" werden.

Vom selben Tage datiert in den Akten des Bayerischen Staatsarchivs (StaatsA Mü: Pol.dir. München 7240) desweiteren ein kürzerer Brief an das Amtsgericht in selber Sache - wenn möglich solle telefonisch sofort der Befehl der Beschlagnahme ergehen.

8.9.1907

Am 8.9.1907 liegt der Beschlagnahmebefehl des Amtsgerichtes vor. Am 9.9.1907 gehen an die verschiedensten Polizeidirektionen des Reiches die Beschlagnahmemeldungen aus. (Zahlreiche Rückmeldungen befinden sich in StaatsA Mü: Pol.dir. München 7240). In München werden Piper und diverse Buchhandlungen aufgesucht, eine ausführliche Liste belegt, wieviele Exemplare man in welcher Buchhandlung gefunden hat - insgesamt werden in München 102 Exemplare eingezogen, mehr noch werden in Leipzig konfisziert.

11.9.1907

Die Zeitungen des In- und Auslands berichten ab dem 11.9.1907 von der Beschlagnahme - cf. Artikel in L'Etoile Belge 255 vom 12.9.1907. Es spricht sich mit den Artikeln herum, daß der Roman tatsächliche Geschichten kolportiert. Das Gerücht, es handele sich hierbei um Geschichten vom Hofe wissen die Münchner Neuesten Nachrichten jedoch am 12.9.1907 bereits zu korrigieren, wenn auch unklar bleibt, was der tatsächliche Hintergrund sein soll. Am 12.9.1907 scheint Piper zudem Beschwerde gegen den Beschluß eingelegt zu haben.

30.12.1907

Am 30.12.1907 wendet sich die Staatsanwaltschaft alarmiert von Hauptmann a.D. Eberhard Meinhold, Dresden wieder der Publikation zu. Diese erfährt über einer Anzeige Meinholds, daß sich Ende 1907 noch immer Exemplare des berüchtigten Tagebuches in München im Handel befinden. Zeuge sei der Kunstmaler Lammert in München.

8.1.1908

Lammert wird in München vernommen, und gibt an, er habe Meinhold auf das Buch aufmerksam gemacht und ihm ein Exemplar zugesandt, das er selbst im Juli vergangenen Jahres anonym zugestellt erhalten hatte - wohl vom Autor mit der hämischen Bemerkung, es werde ihn persönlich interessieren - Lammert selbst spielt eine schlechte Rolle in dem Buch. Die Polizei ist indes hauptsächlich daran interessiert, dem Piper Verlag nachzuweisen, daß dieser das Buch trotz des Verbots noch vertreibt. Lammert will der öffentlichen Behörde nicht mit diesem Nachweis dienen, gerät jedoch in eine mißliche Lage, als die Polizei von ihm das Begleitschreiben erbittet, mit dem er sein Exemlar des Buches erhalten haben will. Am 18.1.1908 gibt er an, über Umwege das Exemplar direkt vom Verlag erhalten zu haben, dabei hätte er Stillschweigen versprochen. Gehandelt habe er in dieser Sache auf den Wunsch von Eberhard Meinhold, Dresden. Was jedoch die Person des Verfassers angeht, so will Lammert auch am 18.1.1908 noch keine präziseren Aussagen machen können. Mehrere Personen habe er schon in Verdacht gehabt, klarer würde nur Meinhold Bescheid wissen.

Ein Aktenvermerk der Polizeidirektion München rekapituliert (wohl noch) im Januar, was man zu dem Werk und seine Genese nach Befragungen in der Familie Meinhold recherchieren konnte. Demnach stammte die ursprüngliche Fassung des "Tagebuches" von der Schriftstellerin Elfriede Meinhold, die in Münchner Künstlerkreisen verkehrte. Nach ihrem Tod am 4.11.1906 will ihr älterer Bruder, Hauptmann a.D. Meinhold in Dresden-Trachau das vorgefundene Manuskript vernichtet haben. Der Druck scheint von einer Abschrift erfolgt zu sein, die mutmaßlich ein ehemaliger Liebhaber der Autorin anfertigte - so die dubiose Geschichte nach polizeilicher Ermittlung.

21.1.1908

Am 21.1.1908 ist bei der Polizei der Herausgeber des Buches bekannt: Dr. phil. Benno Rüttenauer, Schriftsteller. Ende Januar verfügt man zudem über einen weitreichenden Schlüssel zum Buch.

24.2.1908

Mit dem 24.2.1908 wird das personenbezogene Verfahren beendet. Die Staatsanwaltschaft setzt die Polizeidirektion vom Gang des Verfahrens in Kenntnis. Gegen Richard Piper, Dr. Curt Bertels und Dr. Bruno Rüttenauer wird mangels Nachweisbarkeit des Bewußtseins der Unzüchtigkeit des Buches nicht mehr ermittelt. Die Erwägungen, ob nun das objektive Verfahren auf Einziehung des Buches eingeleitet werden soll, schweben noch. Das "subjektive Verfahren" - das sich gegen Subjekte richtet und von diesen eingeleitet wird, ist damit beendet, das "objektive" in dem der Staat einschreiten kann, um Unheil von Lesern und anderen Bürgern abzuwenden kann jetzt beginnen. Akten aus diesem Verfahren sind, soweit ersichtlich nicht mehr überliefert. Die Polizeidirektion erhielt jedoch das Urteil zugestellt, das am 4.5.1908 in der Sache erging, und mit der Anordnung von Schwärzungen auf die Textgestalt entscheidenden Einfluß nahm.

21.6.1908

Das Urteil birgt eine juristische Hypothek, da es auf Staatskosten endet. Der Verlag Piper wird telefonisch bei der Staatsanwaltschaft mit der Drohung vorstellig, man werde den Verlust, den man mit einer teilweise geschwärzten Ausgabe erzielen werde, auf die Staatskasse abwälzen. Die Staatsanwaltschaft informiert am 21.6.1908 die Polizeidirektion von dem drohenden Ungemach und rät zu einer Absprache mit dem Verlag, die die billigste Lösung des Poblems herbeiführen wird - alles weitere wird der Polizeidirektion überlassen.

4.7.1908

Am 4.7.1908 setzt der Verlag Piper die Staatsanwalschaft von der beschlossenen Umsetzung der Zensur in Kenntnis - man wird ganze Bogen herausnehmen. Die Polizei sichert sich ab und bittet Herrn Kommerzienrat Hans Oldenbourg, vom Verlag und Druckerei Oldenbourg um ein Gutachten in der Frage, was da wohl die günstigste Lösung wäre. Dabei fragt man nach, ob durch die Schwärzung weitere Passagen beschädigt würden, was die Herausnahme der Seiten kostete, und welchen Wert das Endresultat überhaupt noch hätte.

6.7.1908

Oldenbourgs Gutachten macht die Angelegenheit nicht enfacher: die blattweise Erneuerung würde in seinem Unternehmen 266 Mark kosten, die vom Verag präferierte bogenweise bei 1000 Exemplaren jedoch 848 Mark. Ihm sei dabei nicht klar, welchen Wert die Auflage nach der Maßnahme noch hätte. Vermutlich würde man sie zu 25% des Veraufswertes an einen Ramschhändler absetzen.

8.7.1908

Dies wiederum bewegt die Polizeidirektion München am 8.7.1908 dazu, bei all den Stellen, die im Reich Exemplare beschlagnahmten nachzufragen, wie denn die bei ihnen ruhenden Bestände beschaffen seien: komplett fertig, gebunden oder broschiert, all dies, damit Oldenbourg sagen kann, wieviel es billiger wird, wenn er seitenweise die Zensurmaßnahme umsetzt.

Die Firma Piper bringt schließlich ein preiswerteres Angebot ins Spiel: Für 66 Mark wird man die Bogen eigenhändig auswechseln. Die Abholung ist im Preis inbegriffen - ein Angebot, auf das sich die Polizeidirektion nicht sogleich einläßt.

29.7.1908

Am 29.7.1908 präzisiert Oldenbourg seinen Voranschlag, er bleibt teurer als Piper. Am 13. August wird die Aktion durchgeführt und ein Aktenvermerk angelegt.

© 2004, Olaf Simons